Motivation

AUSGANGSSITUATION UND MOTIVATION DES PROJEKTES

Unter den psychisch erkrankten Menschen gibt es eine Gruppe mit besonders umfangreichem Versorgungsbedarf. Bei diesen Menschen liegt eine „schwere psychische Erkrankung“ (engl. severe mental illness – SMI) vor, die mit erheblichen Einschränkungen in verschiedenen Funktions- und Lebensbereichen einhergeht. Auch die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe sind dadurch eingeschränkt. Schätzungen zufolge sind 1% bis 2% der Erwachsenen zwischen 18 und 65 Jahren schwer psychisch erkrankt.  

Unzureichende Versorgungs- und Unterstützungsangebote

Trotz kontinuierlicher Weiterentwicklung gemeindenaher Angebote der Behandlung, Rehabilitation und Eingliederungshilfe werden die Betroffenen vielfach nicht ausreichend versorgt. Insbesondere fehlen intensiv-ambulante Hilfen mit aufsuchend arbeitenden Teams und rund um die Uhr verfügbaren Krisendiensten. Diese Umstände führen zu einer Unter- bzw. Fehlversorgung, die sich besonders in akuten Krisensituationen zeigt: Es kommt zu unnötigen Krankenhausaufnahmen und -behandlungen mit entsprechend hohen Kosten. Die damit verbundene Herausnahme aus dem persönlichen Lebensumfeld sowie häufig traumatisierende Begleitumstände bei Zwangseinweisungen sind für die erkrankten Menschen äußerst belastend. Das Vertrauen ins Hilfesystem wird nicht selten nachhaltig zerstört.

Ein weiteres Problem ist die starke Fragmentierung des Versorgungssystems. Die Behandlungs- und Betreuungsleistungen sind aufgeteilt auf unterschiedliche Sozialleistungsträger mit unterschiedlichen, getrennten Vergütungssystemen. Dies führt dazu, dass einzelne Leistungserbringer unverbunden nebeneinander her arbeiten, obwohl es um dieselben Betroffenen geht. Fallbezogene Kooperationen bleiben unverbindlich oder finden gar nicht erst statt.

Infolgedessen erhalten die Betroffenen nicht, wie es erforderlich wäre, komplexe, vernetzte Leistungen „wie aus einer Hand“. Schwer psychisch erkrankte Menschen, für die Sicherheit, Vertrauensaufbau und Beziehungskontinuität zu unterstützenden Personen besonders wichtig wären, sehen sich stattdessen mit einem schwer durchschaubaren Dickicht einzelner Angebote, Maßnahmen und Interventionen konfrontiert. Dies ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen bzw. engen Bezugspersonen in hohem Maße unbefriedigend. Volkswirtschaftlich betrachtet entstehen zudem Effizienzverluste für das gesamte Versorgungssystem.

Lösungsansätze

Wie sich diese Versorgungslücke schließen lässt, zeigen internationale Vorbilder, deren Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien bereits erwiesen wurde. Im Mittelpunkt des Versorgungssystems müssen multiprofessionelle, ambulant-aufsuchend arbeitende gemeindepsychiatrische Basisteams stehen, orientiert an den britischen Community Mental Health Teams (CMHT) und dem niederländischen Modell des „Flexible Assertive Community Treatment“ (FACT-Modell). Zum Angebot müssen auch rund um die Uhr erreichbare Kriseninterventionsdienste (Assertive Outreach) gehören.

Die gemeindepsychiatrischen Basisteams nehmen für die Betroffenen und ihre Angehörigen bzw. Vertrauenspersonen eine Anker- und Lotsenfunktion wahr und planen mit ihnen gemeinsam die im Einzelfall gebotenen Hilfen. Für die erforderlichen Verständigungs- und Aushandlungsprozesse steht mit dem skandinavischen Konzept des Offenen Dialogs ein erprobtes Werkzeug zur Verfügung.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) nimmt in ihrer 2019 aktualisierten S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ auf die genannten Vorbilder Bezug und fordert ausdrücklich dazu auf, entsprechende „gemeindepsychiatrische Systeminterventionen“ auch in Deutschland flächendeckend zu etablieren.

Multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Behandlung

Empfehlung 10 (NEU)
In allen Versorgungsregionen soll eine gemeindepsychiatrische, teambasierte und multiprofessionelle Behandlung zur Versorgung von Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung zur Verfügung stehen.

Empfehlung 11 (NEU)
Menschen mit schweren psychischen Störungen in akuten Krankheitsphasen sollen die Möglichkeit haben, von mobilen multiprofessionellen Teams definierter Versorgungsregionen in ihrem gewohnten Lebensumfeld behandelt zu werden.

Empfehlung 12
Menschen mit chronischen und schweren psychischen Störungen sollen die Möglichkeit haben, auch über einen längeren Zeitraum und über akute Krankheitsphasen hinausgehend, nachgehend aufsuchend in ihrem gewohnten Lebensumfeld behandelt zu werden.

Empfehlung 13
Die Möglichkeit der aufsuchenden Behandlung soll insbesondere für die Versorgung von wohnungslosen Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung sowie bei drohenden Behandlungsabbrüchen zur Verfügung stehen.

Empfehlung 14
Wesentliche Aufgabe der multiprofessionellen gemeindepsychiatrischen Teams soll neben der bedarfsorientierten und flexiblen Behandlung die gemeinsame Verantwortung sowohl für die gesundheitliche als auch die psychosoziale Versorgung der Betroffenen sein und so die Behandlungskontinuität sichern.

Ziel soll eine Behandlung sein, die sich am individuellen Bedarf der Betroffenen und an der Intensität der erforderlichen Interventionen zu jedem Zeitpunkt des Behandlungsprozesses orientiert. Im Sinne der Forderung nach einer Behandlung „ambulant vor stationär“ sollen, wo möglich, stationäre Behandlungen vermieden werden.

Quelle: DGPPN (Hrsg.), S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Update 2019.

Dies ist der Ausgangspunkt für das Projekt Gemeindepsychiatrische Basisversorgung. Im Rahmen des Projektes sollen die „gemeindepsychiatrischen Systeminterventionen“ gemäß der oben zitierten Leitlinie der DGPPN in ausgewählten Regionen implementiert werden. Die beschriebene Versorgungslücke soll geschlossen und die Zersplitterung entlang der einzelnen Sozialgesetzbücher überwunden werden. Eine wissenschaftliche Begleitstudie wird die Umsetzung evaluieren.